Rinderhirten im Hutewald: Wo sind die Heckrinder?

Reiten im Wald ist ja per se nichts Besonderes, außer man hat die Möglichkeit, in einem ganz außergewöhnlichen Wald zu reiten, nämlich im Hutewald im Solling derNiedersächsischen Landesforsten. Quarter Horse Journal-Autorin Anita Möschl, die dem Verein Rinderhirten e.V. angehört, durfte die dort lebenden Heckrinder kennen und hüten lernen. Hier erzählt sie von ihrem ungewöhnlichen Erlebnis.
Ich bin Mitglied im Verein Rinderhirten e. V., ein Zusammenschluss von Arbeitsreitern, die ruhig und kontrolliert an Rindern auf der Fläche arbeiten, immer pro Rind und pro Pferd. Der Hutewald wird von den Rinderhirten betreut, ebenso wie einige weitere Naturschutzprojekte und diverse Herden von Landwirten. Der Plan ist, über kurz oder lang ein Netz von einheitlich ausgebildeten Arbeitsreitern über Deutschland zu etablieren. Natürlich gibt es einen guten Grund für diese Arbeitsreiterei: Obwohl diese Rinder naturnah leben, müssen die Herden regelmäßig eingepfercht werden. Es müssen Ohrmarken eingezogen werden, neue bei Kälbern und Ersatz bei erwachsenen Rindern, denn manchmal gehen welche verloren. Jedes Rind in Deutschland, das über zwei Jahre alt ist, muss einmal im Jahr „geblutet“ werden: Ihm wird Blut abgenommen, um es auf Krankheiten zu untersuchen. Genau das ist im Hutewald das Problem: Es ist mit sehr viel Arbeit und Geduld verbunden, die Rinder in den Fangstand zu bekommen. Dafür kommt aktuell ein elektrisch ferngesteuerter Schließmechanismus zum Einsatz, der an einem Tor befestigt ist. Sind die Rinder im Fangstand, wird darüber aus der Entfernung das Tor geschlossen. Dieses Prozedere kann schon einmal ein paar Tage dauern.

Hilfe durch professionelle Rinderhirten
Fast wild lebende Rinder haben eine große Fluchtdistanz, ähnlich wie Damwild. Sie lassen sich nicht so leicht händeln, brechen schnell durch menschliche Reihen. Darum ist man auf einem gut ausgebildeten Arbeitspferd besser aufgehoben, man ist schneller und bringt eine gewisse Autorität mit. Die Rinder haben mehr Respekt. In Zukunft sollen die Rinder mit der Hilfe von Arbeitsreitern eingepfercht werden. Damit dies gelingen kann, braucht es eine gewisse Vorbereitung. Die Heckrinder werden bei diversen Trainings an die Pferde gewöhnt. Anfangs sind sie angesichts der Reiter brüllend geflohen, inzwischen dulden sie Reiter in ihrer Nähe und man kann anfangen, sie zu arbeiten.

Nordlichter im Hutewald
Um diese spannende Arbeit zu unterstützen, haben wir uns zu zweit aus dem hohen Norden auf den Weg ins Weserbergland gemacht. Zu viert sind wir dann siebeneinhalb Stunden in diesem Gehege geritten und haben wieder einen großen Schritt in die richtige Richtung, sprich die Rinder getan. Zunächst haben wir uns mit dem Gelände vertraut gemacht: Wo sind die Grenze? Wo ist der Fangstand? Danach ging es daran, die Rinder zu suchen – gar nicht so einfach auf einer so großen Fläche und dann noch im Wald. Das Gelände ist absolut naturbelassen, es gibt keine Wege, nur Rindertrampelpfade. Man reitet quasi querfeldein, über und unter Ästen und Bäumen, durch Matschlöcher, eben durch reale Natur.
Die Pferde suchen sich selbstständig den Weg – müssen sie auch, denn als Reiter weicht man ständig tiefhängenden Ästen aus. Da ist es gut, wenn die Arbeitsteilung zwischen Reiter und Pferd stimmt. Loslassen ist angesagt. Häufig liegt man mehr auf dem Pferdehals, als dass man aufrecht sitzt – und plötzlich entdeckt man sie!

Alles ist im Flow
Die Heckrinder stehen ruhig, fast unsichtbar unter den Bäumen, pinseln mit dem Schwanz und wackeln mit den Ohren. Wir halten an, man beobachtet sich. Es ist faszinierend! Wir Reiter machen einen groben Plan, wollen sie erstmal ein wenig treiben, schauen, wie weit die Fluchtdistanz ist. Also nähern wir uns langsam an, die Herde setzt sich in Bewegung, zur Freude aller recht gesittet. Alles ist im Flow! Wir haben immer noch ein wenig mit dem Gelände zu kämpfen. Es ist ein riesiger Unterschied, Rinder in einem Wald zu treiben im Vergleich zu einer offenen Fläche: Man sieht sie kaum, ständig liegt etwas im Weg.

Oder auch nicht
Die Heckrinder sind im Heimvorteil. Sie huschen lautlos durch den Wald. Wir sind dagegen laut wie Elefanten. Schwups verschwinden sie im Unterholz und weg sind sie. Ich hatte es mir leichter vorgestellt. Man hat das Gefühl, blind zu sein, sieht nur Bäume, bildet sich ein, Rinder zu sehen, wo gar keine sind. Puh! Wir entschließen uns, erst einmal Pause am Fangstand zu machen, dort können die Pferde grasen. Danach geht es weiter auf die nächste Runde. Man entdeckt permanent Neues, schärft seinen Orientierungssinn. Erneut suchen wir die Rinder, sehen sie einmal kurz und dann sind sie wieder weg. Wie Schatten. Nach zwei weiteren Stunden verlassen wir den Wald und fahren auf eine uns von dem Naturpark zugewiesene Wiese. Dort hat man uns einen Wasserwagen und Panels bereitgestellt. Wir errichten unser Lager, tränken die Pferde und gehen in den „Krug“, eine Kneipe um die Ecke. Nach einer geruhsamen Nacht kommen wir mit einer sehr netten Anwohnerin ins Gespräch. Sie bietet uns Kaffee und Croissants an, die wir dankend annehmen. Schlussendlich frühstücken wir ausgiebig sehr nett unterhalten im Stehen auf ihrer Papiermülltonne.Danach räumen wir unsere Siebensachen zusammen, verladen die Pferde und fahren in den Wald.

Rinder umstellen
Wir haben schon an den Anhängern einen Plan gemacht: Rinder suchen, einen Viertelkreis in einer Ecke bilden und warten. Genauso machen wir es auch, die Rinder stehen genau dort, wo wir sie erwartet haben. Wir können sie in der Ecke umstellen. Danach beginnen wir, uns langsam zu nähern. Sie lassen es zu. Juhu! Warten, immer mit der Ruhe. Der nächste Schritt ist, die Linie mal nach rechts und wieder zurück verschieben – die Rinder bleiben ruhig. Es geht auch für uns immer noch darum, diese Herde kennenzulernen. Wie viel Druck vertragen die Tiere? Wie reagieren sie bei zu viel Druck? Das probieren wir dann auch gleich aus Versehen mal aus. Die Rinder laufen nach links, wir verschieben die Linie und wenden die Herde. Soweit alles gut – bis sie vor uns rumlaufen, nicht alle, ungefähr die Hälfte. Plötzlich stehen wir zu zweit in der Herde! Unsere Pferde bleiben die Ruhe selbst, sie kennen solche Situationen. Kommt halt immer mal vor. Ist nur in diesem Fall recht imposant gewesen, weil sie erstens sehr schnell waren und man ja doch noch nicht genau wusste, wie sie reagieren. Aber so konnte ich mir auch den Bullen mal aus der Nähe betrachten, ein stattliches Kerlchen. Eine Tonne Gewicht hat er wohl, gefühlt ein einziger Muskel, ausgestattet mit imposanten Hörnern. Und dann sind sie weg, die Rinder…

Wie kriegen wir die Herde wieder?
Kein Problem. Wir reiten einen großen Bogen, hoffen, vor die Herde zu kommen und dann sehen wir sie. Sie stehen entspannt im Dunkel unter Bäumen. Die Blicke sind inzwischen geschärft, man weiß, wonach man sucht. Also treiben wir sie in einer großen L-Formation wieder zurück. Wir Nordlichter sind hinten, die beiden anderen Rinderhirten nehmen die Flanke. Sehr spannend, da man vor lauter Bäumen und großem Abstand die anderen Reiter nicht sehen kann. Man erkennt aber an der Herde, wo die Anderen sind. Es ist magisch! So verbringen wir den Vormittag. Mittags machen wir erneut Pause am Fangstand, diesmal ausgerüstet mit Proviant. Wir fachsimpeln ein wenig und genießen das schöne Wetter. Nach der Pause haben wir dreißig Minuten Anritt zur Herde. Sie steht dort, wo wir sie verlassen haben. Wir folgen dem gleichen Plan wie vormittags, können immer dichter an die Tiere heran. Einige Rinder legen sich hin. Es ist großartig, dass sie sich in unserer Gegenwart entspannen. Daraufhin beginnen wir, sie immer mehr zu umreiten und es klappt. Die Freude ist groß: Zwei Tage im Leben eines Rinderhirten, die sich gelohnt haben! Wir haben zwei anstrengende, wunderschöne Tage mit lieben Menschen in einem genialen Wald verbracht. Dafür bedanke ich mich bei den Verantwortlichen des Hutewaldes, bei den Rinderhirten und natürlich bei meinem Pony.

Text: Anita Möschl