Das große „Huch“

Die Gefahr lauert immer und überall!

Wo „American Quarter Horse“ draufsteht, ist eine echt coole Socke drin: Unerschrocken, gelassen, souverän und kooperativ meistern unsere Quartis Situationen, die jedes Deutsche Reitpferd, jeden Isländer und jeden Andalusier erzittern lassen würden. Mit einem lässigen „Da nich’ für!“ winken sie bescheiden ab, wenn wir uns bei ihnen für den tapferen, überlegten und überlegenen Umgang mit einer Gefahrensituation bedanken wollen. Mal wieder. Und stürzen sich erneut mit heldenhaft gewölbter Brust dem frechsten Rindvieh, dem blutrünstigsten Traktor und dem gruseligsten Absperrband entgegen, der Gefahr mutig ins Auge sehend. Soweit die Theorie. Aber manchmal sieht’s halt doch anders aus… 

„Besonderer Wert wird auf gute Charaktereigenschaften und ein gutartiges Temperament gelegt“ heißt es in der Beschreibung des Zuchtziels in der Zuchtbuchordnung der DQHA – und Beschreibungen anderer Westernpferderassen auch. Nervenstark, intelligent, gutartig und freundlich, dabei in der Lage, auch schwere Aufgaben weitgehend selbständig zu bewältigen – für American Quarter Horses und ihre Kollegen unterm Westernsattel sind diese Eigenschaften typisch. Ihre besondere Qualität in Temperament und Charakter stellen sie tagtäglich weltweit unter Beweis, ob auf quirligen Shows oder bei harten Ritten durch anspruchsvolle Landschaften, im Schneesturm oder bei Gluthitze, geritten von Profis oder Amateuren, unerfahrenen Kindern oder versierten Reitern. Daran gibt es keinen Zweifel. 

Doch auch, wo Westernpferd draufsteht, steckt am Ende doch ein Fluchttier drin. Und Fluchttieren gebietet ihr Instinkt: „Hau erst mal ab, nachdenken kannst du immer noch!“. Ein Pferd wäre kein Pferd, wenn es im Zweifelsfall nicht lieber sein Heil in der Flucht suchen würde. Bei unseren Quarter Horses mag die Schwelle höher liegen, die Reaktion weniger heftig, weniger lang ausfallen, doch vom kurzen Zucken über heftiges Scheuen bis hin zum panischen Durchgehen finden wir auch bei ihnen die ganze Palette der Fluchtreaktionen. Ein gewisses Ausmaß ist völlig normal und sogar gut und richtig – zeigt es doch, dass unser Pferd seine Umwelt wach und aufmerksam beobachtet und nicht blindlings hindurchstolpert. Häufige, aus unserer Sicht übertriebene Angstreaktionen dagegen sind aber ein Anzeichen dafür, dass etwas schief läuft. Mehr noch: Das kann nerven, den Reiter in Bedrängnis bringen, auch richtig gefährlich werden – und wenn wir die eigene Perspektive verlassen und versuchen, die Sichtweise unseres Pferdes einzunehmen, ist diese überdurchschnittliche Neigung zum Erschrecken belastend und stressbeladen. 

Solche Fluchtreaktionen können ganz unterschiedlich ausfallen und in verschiedenen Situationen auftreten: Mal ist es der kurze Hüpfer immer in derselben Ecke der Reithalle, mal ein häufig auftretendes nervöses Zucken beim Ausritt, wo jedes Rascheln und Knacksen das Pferd zu verunsichern scheint, mal die ausgeprägte Panik bei ganz bestimmten Anblicken, Gerüchen oder Geräuschen oder in definierten Situationen wie etwa beim Verladen, Beschlagen oder Behandeln. 

Gemeinsam geht’s besser

Wie auch immer die Details aussehen mögen, oft wird in solchen Situationen gegen das Pferd agiert anstatt gemeinsam mit ihm. Natürlich soll es gelassen bleiben, selbstverständlich ist es erwünscht, dass es sich in echten oder vermeintlichen Gefahrensituationen der Führung seines Menschen anvertraut und sich unter dessen Schutz stellt. Das aber muss trainiert werden und der Reiter muss sich dieses Vertrauen erst erarbeiten. Dazu gehört, selbst die Ruhe zu bewahren und weder sich noch das Pferd zu überfordern. Schafft der Reiter es, aus Gefahrensituationen immer wieder Erfolgserlebnisse abzuleiten, wird sein Pferd daraus lernen. Dabei muss er sich stets bewusst sein, dass Instinkte nicht einfach abgestellt werden können – wenn sein Pferd eine Schreckreaktion zeigt, handelt es instinktiv und nicht etwa vorsätzlich. Man muss jedem Pferd eine eigene Sicht auf die Dinge und eine eigene Bewertung der Situation zugestehen und kann von ihm keine rationale, menschliche Perspektive erwarten. 

Wie kann eine solche konstruktive Bewältigung von Gefahrensituationen aussehen? Sie fußt auf einer achtsamen Haltung des Menschen, der seine Beschützerrolle ernst nimmt. Wenn sich mein Pferd hundertprozentig darauf verlassen kann, dass es immer und überall unter meinem Schutz steht, dann erst kann ich die Führung beanspruchen.  

Sie berücksichtigt auch die Tatsache, dass jede negativ besetzte Schrecksekunde das Problem verschlimmert. Wann immer Ihr Pferd mit einer Situation Angst, Zwang, Druck, Schmerz verknüpft, wird es dies abspeichern. Es ist nicht möglich, eine solche Verknüpfung mit einfachen Mitteln aufzulösen oder gar zu löschen. Bedenken sollten Sie auch, dass Dominanztraining bis auf wenige Ausnahmen der falsche Weg ist. Ein schreckhaftes Pferd ist unsicher, wenig vertrauensvoll, nicht selbstbewusst – und nicht etwa eines, das Ihnen aus mangelndem Respekt auf der Nase herumtanzt! 

Auge in Auge mit der Gefahr

Wie könnte ein guter Umgang mit häufig auftretenden Schrecksekunden konkret aussehen? Sie spulen zurück auf Anfang: Da stehen Sie vor dem Aufsitzen neben Ihrem Pferd und noch ist nichts passiert. Und nun sorgen Sie schlicht dafür, dass es so bleibt. Es ist wirklich so einfach. 

Schauen wir uns die Schrecksekunden mal an, so fallen sie in zwei Kategorien: unvorhergesehene und vorhersehbare.  

Solche, die sich frühzeitig abzeichnen, machen am wenigsten Mühe: Sie und nur Sie erfühlen nun exakt den Punkt – vor allem die Entfernung zur „Gefahr“ – die Ihr Pferd noch ganz ok findet und parieren genau dort durch. Setzen sich ganz gemütlich in den Sattel, lassen die Beine baumeln, legen die Zügelhand tiefenentspannt auf dem Widerrist ab und tun – nichts. Sie texten Ihr Pferd nicht zu, tätscheln es nicht, geben keinerlei Hilfen, denn Ihr Pferd bleibt von selbst ruhig stehen, wenn Sie den passenden Punkt getroffen haben. Sie schauen ganz entspannt in die Richtung, in der Ihr Pferd die Gefahr vermutet und signalisieren ihm durch Ihr ganzes Tun: „Ja, stimmt, da ist was. Hab’s mir genau angesehen, ist harmlos.“ Ihr Pferd muss wissen, dass Sie sich bereits mit der Situation auseinandergesetzt und sie als ungefährlich eingestuft haben, dann bleibt es innerlich bei Ihnen. Aufwändiges Getätschel und Gerede dagegen signalisiert Ihrem Pferd, dass Sie der Situation doch eine potentiell Angst erregende Bedeutung beimessen, auch wenn Sie gerade das Gegenteil behaupten – keine gute Grundlage für Vertrauen. Nichtstun – wie schön! – ist also genau richtig. Zeigt Ihr Pferd zunehmend Unruhe, wenden Sie es gelassen ab und reiten ohne Aufheben weiter. Wirkt es ruhig oder gar gelangweilt, gehen Sie einen oder mehrere Schritte auf die Gefahr zu und halten erneut an. Stillsitzen, entspannen, abwarten. Die Kunst besteht darin, das Heft in der Hand zu behalten (Sie agieren, Ihr Pferd reagiert) und auf ein gewisses Maß an Beschäftigung mit der Angstproblematik hinzuarbeiten, dabei aber immer im Plus zu bleiben. Wer eine solche achtsame Herangehensweise verinnerlicht wird bald feststellen, dass sein Pferd vielleicht nicht sofort mutiger, mindestens aber weniger unsicher wird und eher dazu neigt, mal bei Ihnen nachzufragen: „Du, da vorne ist was. Hast Du das gesehen? Was machen wir am besten?“ Und Sie können allmählich immer offensiver damit umgehen und solche potentiell angsterregenden Situationen selbst und damit für Ihr Pferd ein Stück weit neu definieren: „Sieh mal, das ist ja spannend da vorne! Cool! Das muss ich mir genauer anschauen!“ Und dann tippeln Sie gemeinsam mit Ihrem Pferd so nahe an die „Gefahr“ heran, wie es für Ihren Vierbeiner ok ist. Siehe oben. 

Dieselbe Strategie bewährt sich auch, wenn Ihr Pferd sich angewöhnt hat, an immer denselben Stellen oder zu gleichen Anlässen zu scheuen. Lauert das Eckengespenst unsichtbar rechts hinten in der Reithalle, warten mordlüsterne Mutantenrehe immer und immer wieder auf einer bestimmten Lichtung, dann klappt auch hier dieses Vorgehen: Annäherung bis an den passenden Punkt, Gefahr fixieren und dabei entspannen, Ruhe halten und abwarten, bis Ihr Pferd Ihnen sein OK gibt. Dann je nach Gefühl einen Schritt näher ran oder abwenden und zur Tagesordnung übergehen. 

Schwieriger wird es natürlich, wenn das Unheil unvermittelt über Sie beide hereinbricht. Jetzt heißt es, Ruhe zu bewahren und angemessen zu reagieren – je nach Art und Intensität der Schreckreaktion. Verzichten Sie konsequent auf jede Form von Strafe oder Druck, zeigen Sie aber auch kein „Meideverhalten“, sondern setzen Sie sich aktiv mit dem Angstauslöser auseinander. Dafür haben Sie übrigens alle Zeit der Welt. Aus sicherer Entfernung gilt es, die Situation zu betrachten und zu bewerten. Sie wissen schon: „Ja, da ist was, ich hab’s gesehen. Aber ich hab nachgeschaut, da kann nichts passieren! Komm, wir reiten weiter!“ 

Alles im grünen Bereich

Es kommt beim Umgang mit arttypischen Schreckreaktionen sehr stark darauf an, was unterm Strich herauskommt: ein Erfolgserlebnis oder eine negativ besetzte Erinnerung. Damit Sie im Plus landen, müssen Sie vielleicht neu bewerten, was ein Erfolg ist: Schon das stille Stehen, die Entspannung im Angesicht der Gefahr ist eine gute Leistung und wird dafür sorgen, dass Ihr Pferd dieses Erlebnis positiv abspeichert. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob es in 200 m oder in 2 m Entfernung von der Motorsäge zur Ruhe kommt.  

Entwickeln Sie ein gutes Gefühl dafür, diesen ersten Haltepunkt genau zu erspüren, und achten Sie darauf, auch nicht sich selbst zu überfordern. Sie müssen authentisch agieren – nicht verunsichert Sicherheit geben wollen, nicht furchtsam Mut zusprechen, nicht im Fluchtmodus die Gefahr näher in Augenschein nehmen. Das merkt Ihr Pferd sofort und es wird Ihnen nicht vertrauen. Denn ob mutig oder weniger tapfer – unsere Quarter Horses sind Meister darin, sich zuverlässige Führungskräfte als Beschützer auszusuchen. Sollte ihre Wahl auf Sie fallen, dürfen Sie stolz sein. Und das ist es wert, sich achtsam und aus der Pferdeperspektive mit Schrecksekunden auseinanderzusetzen…  

Text: Angelika Schmelzer, Foto: C. Slawik