Die Vorhand des Pferdes

Training & Anatomie: Untrennbar vereint, Teil I

Das Ziel eines jeden Reiters ist, sein Pferd in Versammlung zu reiten; das Pferd soll sich selbst tragen. Nur so kann es sich unter dem
Reiter dauerhaft gesund bewegen. Kein Reiter möchte ein auf der Vorhand „schlappendes“ Pferd unter sich haben, das zudem im Rücken durchhängt. Wir benötigen also eine aktive Hinterhand mit guter Muskulatur und Potential zur Tragkraftentwicklung.

Wenn man sich unsere Quarter Horses anschaut, möchte man meinen, dass das für diese Rasse wohl das geringste Problem ist. Der „Viertel-Meilen-Flitzer“ ist schließlich das Pferd mit dem schnellsten Antritt und ist auf einer viertel Meile unschlagbar. An Kraft sollte es demnach nicht mangeln. Doch die Hinterhand ist nur die halbe Miete: Die lockere und trotzdem kräftige Vorhand, die den Bewegungsimpuls von hinten nach vorne rauslässt, ist die andere halbe Miete. Die Zusammenhänge erläutert Pferdewissenschaftlerin und Trainerin Dr. Isabell Marr.
Ist die Vorhand verspannt, kann sich das Pferd nicht selbst tragen und auch nicht versammeln. Das ist ungefähr so, als würde man mit angezogener Handbremse Auto fahren. Es kann aber auch andersherum betrachtet werden: Weil sich das Pferd nicht selbst trägt, kommt es zur Verspannung in der Vorhand, da in dem Fall unter anderem der Rumpf zwischen den Schulterblättern absinkt … ein Teufelskreis.

Doch wie kann das passieren?

Dazu müssen wir uns die Anatomie der Vorhand genauer anschauen. Anders als bei uns Menschen, wo die Arme über das Schlüsselbein und somit knöchern mit dem Rumpf verbunden sind, besitzt das Pferd kein Schlüsselbein. Pferde haben keine knöcherne Verbindung zwischen Vordergliedmaßen und Rumpf. Der Rumpf ist zwischen den Vorderbeinen des Pferdes nur über Muskeln, Sehnen und Bänder aufgehängt; die sogenannte „thorakale Muskelschlinge“. Evolutionär betrachtet eine geniale Erfindung von Mutter Natur, denn das Pferd trägt etwa 60 % seines Gewichts auf der Vorhand, was einige 100 Kilo sind. Dieses Gewicht muss in der Bewegung abgefangen und abgefedert werden, was am besten solch eine Muskelschlinge leisten kann. Auch der von der Hinterhand nach vorne gebrachte Bewegungsimpuls kann auf diese Weise optimal abgefangen und abgefedert werden. Die Muskelschlinge wirkt als Stoßdämpfer. Weiterhin wird ein Teil der Bewegungsenergie kurzzeitig gespeichert, um sie beim Abfußen wieder freizugeben. Dies reduziert Ermüdungserscheinungen. Die Bewegung wird effizienter.
Das erklärt, warum sich Pferde in ihrer Bewegung sehr schwerfällig und stapfend, nahezu polternd anhören, wenn sie sich nicht tragen und im Rumpf abgesunken sind. Durch das Absinken des Rumpfes zwischen den Schulterblättern sind die Muskeln und Bänder der Aufhängung bereits stark nach unten gedehnt, sodass eine Stoßabsorption durch ein elastisches Arbeiten kaum noch möglich ist. Die Stöße werden dann durch andere Strukturen insbesondere in den unteren Gliedmaßen absorbiert, was zu einem höheren Verletzungsrisiko und auf längere Sicht zu Schäden an diesen Strukturen führen kann. Ein Pferd, das sich trägt, also den Rumpf zwischen den Vordergliedmaßen anhebt, hört sich dagegen wesentlich leichtfüßiger an, da die Rumpfaufhängung die Stöße vom Auffußen elastisch absorbieren kann.
Zu den Rumpfträgermuskeln der Muskelschlinge gehört vor allem der Musculus serratus ventralis, der zwischen Rumpf und Schulterblatt verläuft. Er verbindet die Vorderbeine mit dem Hals…

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Text: Dr. Isabell Marr, Foto: TS Photography